Die Schneeflocke
Die Laternen leuchten kaum,
Eng ist der weiße Raum
Der schneienden Winternacht.
Schneeflaum fällt im Gedräng,
Die Wege sind weich und erhellt;
Das Gestöber ist wie ein Blütenbaum.
Kein Laut stört die fallenden Flocken,
Der Schnee sich stumm in der Nacht aufbaut,
Und seine Stille geht wie ein Geist sinnend um,
Als sitzt die Nacht spinnend an einem Wocken
Und hat Flocke bei Flocke ausgedacht.
Und morgen, wenn der Tag aufwacht,
Fliegen über den Schnee die schwarzen Raben.
Der Schnee kann die Nacht nicht begraben,
Schnee und Nacht gleich dunkle Gedanken haben.
Der Schneehimmel ist ein Berg ohne Ende,
Seine Wände bescheinen am Tag die Straßen,
Und die kleinen Schneeflocken kommen in alle Gelände,
Wo zur Sommerzeit Blätter und Gräser saßen.
Sie sind wie weiße Nullen mit rundem Leib,
Sie kommen lebendig wie Bienen und Fliegen
Dunkel vor jede Fensterscheib'
Und haben sich geräuschlos verstiegen.
Eine weiße Maske liegt auf jedem Dach,
Darunter sehen Fenster den Flocken nach.
Unhörbar macht der Schnee die Füße der Welt,
Wie eine weiße Nacht voll Schlaf, die am Tag niederfällt.
Schneeflocken sind die Seelen, die hochgeflogen,
Die fortgezogen und der Erde zum Leben fehlen,
Jetzt gleiten sie nieder und verbreiten Licht
Und bescheinen geisterhaft jedes Gesicht.
Der Schnee kommt aus der greisen Ewigkeit,
Und er taut fort wie die Zeit,
Eh du sie noch beschaut.
Schau nicht zu lang in den Schnee
Und nicht in den Schneeflockentanz!
Dein Sinn wird grau, denn ohne Sang
Ist ihr endloser Gang, wie Jahr um Jahr,
Und sie flechten, wie das Alter ins Haar,
Einen weißen leblosen Kranz.
Wenn Schneeflocke bei Schneeflocke fällt,
Und wohin die Schneeflocke faßt,
Wachsen die Berge der ganzen Welt
Und wachsen mit Hast sich selber zur Last.
Die Welt wird entstellt und verblaßt,
Als ob die Schrift eines Buches zerfällt;
Und die Welt scheint schier weißes Papier.
Eine Mondscheib' wird aus dem Erdleib,
Geh oder bleib, du sinkst ein,
Jeder Gedanke wird dir schwer und friert an den Stein,
Denn ein Schlaf ohne Schranke liegt umher,
Und das weiße unendliche Nichts wird dein;
Die Unendlichkeit läßt dich zu sich hinein.
Befreit von deiner Gestalt und der Zeit
Wirst du wie Schnee so weiß und so kalt.
Hattest du vorher wenig Gewalt und warst klein,
Wirst du groß jetzt ein Nichts und voll Ewigkeit sein,
Dein Sein und dein Nichtsein schließt jede kleine Schneeflocke ein.
Sie, die vor deinem Atem zerfließt,
Die in deiner warmen Hand schnell zerfällt,
Wenn sie als Wand in deinen Weg sich stellt.
Wird der eine des andern Geschick,
Und schwer überlebt ein Auge den Schneeblick.
Max Dauthendey 1867-1918
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