GedichteGedichte

Bild

"Der alte Archivar"

Im kühlen Gewölbe, aufs Pult gebückt,
so weltverloren, so weltentrückt,
sitzet und forschet, wie manches Jahr,
also auch heute der Archivar.

Das Aug´ ist müd´ und ihm schwimmen die Zeilen
- da faltet die Hände der alte Mann,
und sinnt, wie so flüchtig die Jahre enteilen
und wie sein eigenes Leben verrann.

Sie haben sich draußen gehetzt und gejagt
und haben sich mit dem Ehrgeiz geplagt
und haben die Spanne der Erdenzeit
geachtet für eine Unendlichkeit.

Er wußte das anders, der Archivar,
denn er sah immer, was vordem war,
und an dem, was immer und immer gewesen,
war seine Seele zum Frieden genesen.

Was den andern die längste Vergangenheit,
das war ihm jüngst verflossene Zeit,
und was die Vielen noch nie gesehen,
er wußt´ es, war immer und immer geschehen.

Die bunten Lappen der Erdenpracht
sie sanken vor ihm in Staub und Nacht –
und von manchen Kaisers vergilbter Hand
blies er gelassen ein Restlein Sand.

Doch hat er in all dem Kommen und Gehen
den Kern der Wahrheit schimmern gesehen
und weiß es fürder unbeirrt,
was bleibend gewesen und bleiben wird.

Und wenn ihm vollend die Feder entsinkt,
dieweil es hienieden zum Ende geht,
wenn die letzte Recherche am Ziele steht
und von ferne die höchste Entschließung winkt –

dann senkt er die Augen und bündelt in Ruh
den Akt des Lebens und schnürt ihn zu.
Und hieß´ es etwa nach einiger Zeit,
geh wieder zur Erde – so wär´ ihm das leid.

Doch brächte ihn dann ein Engel hernieder
und sagte, nun wähle dein Glück! –
er ginge in sein Gewölbe zurück
und würde fürwahr das zweitemal wieder ein Archivar.

August Sperl, 1862-1926

 

 

 

Gedichte: