Das Gedicht "Der alte Archivar" schrieb August Sperl.
Im kühlen Gewölbe, aufs Pult gebückt,
 so weltverloren, so weltentrückt,
 sitzet und forschet, wie manches Jahr,
 also auch heute der Archivar.
 
Das Aug´ ist müd´ und ihm schwimmen die Zeilen
 - da faltet die Hände der alte Mann,
 und sinnt, wie so flüchtig die Jahre enteilen
 und wie sein eigenes Leben verrann.
 Sie haben sich draußen gehetzt und gejagt
 und haben sich mit dem Ehrgeiz geplagt
 und haben die Spanne der Erdenzeit
 geachtet für eine Unendlichkeit.
 Er wußte das anders, der Archivar,
 denn er sah immer, was vordem war,
 und an dem, was immer und immer gewesen,
 war seine Seele zum Frieden genesen.
 Was den andern die längste Vergangenheit,
 das war ihm jüngst verflossene Zeit,
 und was die Vielen noch nie gesehen,
 er wußt´ es, war immer und immer geschehen.
 Die bunten Lappen der Erdenpracht
 sie sanken vor ihm in Staub und Nacht –
 und von manchen Kaisers vergilbter Hand
 blies er gelassen ein Restlein Sand.
 Doch hat er in all dem Kommen und Gehen
 den Kern der Wahrheit schimmern gesehen
 und weiß es fürder unbeirrt,
 was bleibend gewesen und bleiben wird.
 Und wenn ihm vollend die Feder entsinkt,
 dieweil es hienieden zum Ende geht,
 wenn die letzte Recherche am Ziele steht
 und von ferne die höchste Entschließung winkt –
dann senkt er die Augen und bündelt in Ruh
 den Akt des Lebens und schnürt ihn zu.
 Und hieß´ es etwa nach einiger Zeit,
 geh wieder zur Erde – so wär´ ihm das leid.
 Doch brächte ihn dann ein Engel hernieder
 und sagte, nun wähle dein Glück! –
 er ginge in sein Gewölbe zurück
 und würde fürwahr das zweitemal wieder ein Archivar.
August Sperl, 1862-1926
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