Das Gedicht "Zur Weinlese" schrieb Novalis.
5. Oktober 1799
Wir haben Weinmond, lieben Leute, 
   Und weil nicht immer Weinmond ist; 
   So sag ichs euch in Versen heute, 
   Damit es keiner nicht vergißt. – 
   Wenn Weinmond ist, so müßt ihr wissen, 
   Da gibt es Trauben, Most und Wein, 
   Und weil die armen Beeren müssen, 
   So sprützen sie ins Faß hinein.
Es gibt gar unterschiedne Beeren, 
   Von allen Farben trifft man sie, 
   Und manche hält man hoch in Ehren, 
   Und manche wirft man vor das Vieh. 
   Sie sind im Temprament verschieden 
   Und von gar mancherlei Statur; 
   Doch allen ist der Wein beschieden 
   Als Lieblingskindern der Natur.
Zu einem Stock will ich euch führen, 
   Das ist ein Stöckchen wie ein Taus, 
   Um seine Süßigkeit zu spüren 
   Sucht eine Traube euch heraus. 
   Ich lobe mir die braven Wenden, 
   Sie langen zu, und sind nicht faul, 
   Sie stecken gern mit beiden Händen 
   Die blauen Trauben in das Maul.
Nicht wahr, das schmeckt nicht herb und sauer? 
   Was gut schmeckt, weiß der Wende wohl, 
   Er ißt und geht gern auf die Dauer, 
   Und nimmt die beiden Backen voll. 
   Drum kann er auch nicht Worte machen, 
   Er steht voll Eifer da und kaut, 
   Doch sieht man ihn so schämig lachen 
   Als kaut er still an einer Braut.
Daß er den Trank anjetzt im ganzen 
   Verkauft, dafür kann ich euch stehn. 
   Oft wird er um den Stock noch tanzen 
   Und sich mit seinem Träubchen drehn. 
   Wer weiß ob er nicht aus dem Kerne 
   Ein neues Mutterstöckchen zieht, 
   Was viele Jahre in der Ferne 
   Zum Ruhm des alten Stockes blüht.
Der alte Stock wird blühn und wachsen, 
   Wenn man den Überfluß ihm nimmt 
   Und überall im Lande Sachsen 
   Sein Wein auf guten Tischen schwimmt. 
   Er hat noch manche reife Traube 
   Von andrer Art und ihm zur Last; 
   Es bitten Geier oder Taube 
   Vielleicht sich bald bei ihm zu Gast.
Daß er noch lange blüht, das weiß ich, 
   Obwohl er manches Jahr schon steht; 
   Denn dafür, lieben Leute, heiß ich 
   Ein Dichter oder ein Poet. 
   Ihr denkt wohl gar ich sei ein Träubchen, 
   Weil mich der Stock fest an sich schnürt? 
   Ich bins zufrieden, wenn ein Weibchen, 
   Ob ich gut schmecke, sacht probiert.
Drum weil nicht Weinmond alle Tage, 
   Kein solcher Stock nicht überall, 
   So denkt nicht heut an eure Plage, 
   Zieht eure Sorgen in den Stall. 
   Laßt unsern alten Weinstock leben! 
   Und seinen lieben Winzer da! 
   Und einen Kuß soll man ihm geben 
   Als Kandidat zur Großmama.
Novalis - Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, 1772-1801
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