Gedichte Licht-Schatten-Farben-Sinne-Wahrnehmung
Kleinmütiger, du glaubtest, die Zeit des Liedes sei vorbei? Du glaubtest, die Zeit der nüchternen Arbeit habe die Zeit der festlichen Gefühle verdrängt, habe die Menschen so taub und blind gemacht, daß keiner mehr Ruhe finden könne, sich in ein Gedicht zu vertiefen! Du glaubtest, äußerst ehrlich zu sein, als du dem Liederdichten entsagen wolltest und nur zum erzählenden Wort deine Kräfte sammeln wolltest! Du irrst gewaltig. Du hast freiwillig verzichten wollen auf den Weg zur höchsten Menschenhöhe, um wahr gegen deine Zeitgenossen und dich selbst zu handeln! Werde wach, und sieh auf mich, den Gläubigen, der vor der Muse mit Begeisterung niederkniet und der durch das Alltagsgeschrei hindurch an Lied und Dichtung inbrünstig glaubt!» Da kam eine Träne in mein Auge, und als Dehmel sein Gedicht fortlegte und die Brandung seiner Stimme im Zimmer verschollen war, bemerkte er die Träne, die ich gerne versteckt hätte, und wir schüttelten uns die Hände, und er sagte: «Habe ich das wirklich fertiggebracht mit meinem Gedicht, daß du weinen mußtest?» «Ja», sagte ich. Doch konnte ich ihm nicht all die aufgewühlten Gedanken erklären, die mich plötzlich umgewandelt hatten von einem dichtungsungläubigen in einen dichtungsgläubigen Menschen. Und diese Weihe und diesen Glauben, den ich von dieser Stunde an wieder für Lied und Gedicht über mich kommen ließ, der ist nie wieder von mir gewichen und steigerte sich von Jahr zu Jahr, sich in Kraft umsetzend. – Die andere Begegnung, die mit Stefan George, war nicht von dieser stark hinreißenden Art gewesen, aber sie bestimmte und festigte ebenfalls in mir die neue Überzeugung, daß der Wunsch, Dichtungen in Versen und Gesängen zu schaffen, trotz des Maschinenzeitalters und trotz der Wirklichkeitskunst, die auf den Bühnen in jenen Jahren Feste feierte, nicht unmöglich war. Wenn auch der augenblickliche Zeitgeist sich ablehnend gegen das Lesen von Gedichten verhielt, so war es doch ganz unmöglich, daß deshalb die Dichter und die Dichtung aussterben und nur die Erzählungskunst und die Bühnenkunst allein weiterleben sollten. Die Begegnung mit Stefan George wurde durch seine Zeitschrift eingeleitet. Ich erhielt im Winter 1892–93, in jener Zeit, da Dehmel und ich eben befreundet wurden, eines Tages das Heft einer Zeitschrift zugesendet, welche den Titel führte «Blätter für die Kunst». Das zuerst ins Auge fallende an jenem Heft war die anspruchslose Einfachheit der Ausstattung, die
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