Gedichte Licht-Schatten-Farben-Sinne-Wahrnehmung

Als ich dann meinen Gegenbesuch machte und in einem großstädtischen Hause in der eben fertig gebauten Elsässer Straße im Treppenhaus auf einem schönen stattlichen Messingschild den Namen Dr. phil.. Richard Dehmel las, konnte ich mir den Mann mit dem durchfurchten Gesicht, der wie Christus die Sorgen der ganzen Welt zu tragen schien, nicht in diesen Renaissancebau hineindenken. Und auch als ich dann in einem mattblauen Schreibzimmer stand und durch die Flügeltür nach einer Weile ein schmaler, feingliedriger, schlanker Mann von ungefähr dreißig Jahren hereinkam und mich begrüßte, da konnte ich in der Figur, die neulich unter einem weiten Kragenmantel verborgen gewesen, den Mann, den ich im eisigen Besuchszimmer meiner Hausfrau gebeugt vor der Tischplatte hatte sitzen sehen, nicht gleich wiedererkennen. Nur die angenehme leise Stimme erkannte ich wieder, aber die Furchen im Gesicht waren lachendere Furchen, lebensbewegter und nicht nur Sorgenfurchen, wie ich sie zuerst falsch gedeutet hatte. Es war ein von Begeisterung und innerlichen Ekstasen durchwühltes Künstlergesicht, über das ich erstaunte, weil es für seine jungen Jahre schon mächtig lebenserschüttert schien. Aber immer noch nicht kannte ich den Dichter Dehmel. Denn ich hatte noch kein Gedicht von ihm gelesen. Dann erlebte ich jenen, mir unvergeßlichen Abend, an welchem Dehmel mir sein Gedicht «Christus der Künstler» vorlas. Wir saßen bei ihm bei der Lampe an einem Tisch, und Dehmel, in gesteigerter Begeisterung, las stark ergriffen und hingerissen, wie es seine Eigenart ist, vor. Auf meinem Stuhl war mir, als hätte man denselben mit mir mitten in eine Meeresbrandung gestellt. Ich begriff weniger das Gedicht als die Art des Dichters, der mit einer Urwelt, stimme fortgesetzt donnernd zwischen den Zeilen meinem Herzen zuzurufen schien: «Begreifst du nun, du elender Nichtigkeitswurm, daß der Glaube an die Dichtung Dichtung schaffen kann und Dichter gebären kann, auch wenn das Zeitalter von Prosa, Naturwissenschaft und Nüchternheit strotzt! Ein Gedicht bleibt ewig die Krone der Schöpfung. Wie konntest du so armselig sein und nicht mehr glauben, daß auch die Neuzeit Gesänge anstimmen muß! Daß auch die Zeit der Lokomotiven, der Telegraphie und des elektrischen Lichtes Sänger haben will und muß, die in Reimen, in begeisterten Versen und ewigen Liedern Verkünder der Menschengefühle sein müssen!

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